Text aus dem Büchlein das der Verlag von Karl Engelberger & Sohn Buchdruckerei Stans herausgegeben hat.

Text von Franz Odermatt ,  verfasst Ende Juni 1910  

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Der Hochwasserschaden im Stanserboden

vom 15. Juni 1910

Selten ist ein Vorsommer so schön und früchteverheissend über dem Stanserboden aufgegangen, nie war das Heu so üppig in den fruchtbaren Matten gestanden wie im Jahre 1910. Wer hätte es gedacht, dass wir diese Jahreszahl in die Unglückschronik unseres Landes eintragen müssten. Nach mehr als einem halben Jahrhundert hat das Aawasser wieder einmal den Boden betreten, den es in Jahrtausenden selbst gebildet hatte. Am 15. Juni 1910 hat es sein Anrecht auf dieses Stück Boden, den Arbeit und Fleiss der Menschen zu einem Paradies gemacht haben, mit unwiderstehlicher Gewalt, mit einer Kraft, vor der wir staunten und zitterten, wieder geltend gemacht. Wer während den Tagen vom 15 bis 18. Juni von den Anhöhen des Stanserhorns hinüberblickte über die weite Talebene, dem schnitt der Anblick in die Seele. Vom Berghang bis hinaus zur Riedmatte wälzte sich ein schmutziggelbes Schlammwasser in breiten Strömen über die herrlichen Wiesen dahin, die vor Tagen noch der Stolz der Bauern und die Freude jedes über die Fluren Wandernden waren.

Wer diese Tage erlebt, vergisst sie nicht mehr! Aber die Menschen sterben, unsere Zeit lebt der Gegenwart und vergisst die Lehren der Vergangenheit. Die heutige Generation hat die Furchtbarkeit einer Überschwemmung nicht mehr gekannt, nicht mehr geglaubt - bis eines Morgens das Wasser sich wieder vor unseren Türen staute, Baumstämme durch die Matten wälzte, das erntereife Heu unter Schlamm und Schutt begrub - bis die Sturmglocken riefen und Bedrängte aus den vom Wasser umspühlten Häusern um Hülfe schrien.

Gewiss - wer den Schrecken dieses Tages erlebt hat, vergisst ihn nicht mehr. Unsere Aufgabe aber ist es, die Lehren des Unglücks mit weitem Blick und vaterländischer Gesinnung zu erfassen und in die Tat umzusetzen, die Wunden mit warmem Bruderherzen auszuheilen, die der 15. Juni unserem Lande schlug. Den Nachkommen lassen wir, damit sie die Gefahr nicht vergessen oder gering achten, dies schwache Bild von den Verheerungen des Hochwasserschadens dieses Tages zurück.

Geschichtliches.

Das Material zu den nachfolgenden knappen historischen Ausführungen verdanken wir Herrn Staatsarchivar Dr. Rob. Durrer, seinen mündlichen Mitteilungen und den uns gütigst zur Verfügung gestellten Urkunden.

Wir haben vielfach eine falsche Vorstellung vom Lauf der Aa in der alten Zeit. Wir stellen uns vor, der Fluss sei regellos über den noch unbebauten Stanserboden dahingeflossen, dann von der allmählig weiter fortschreitenden Kultur des Landes immer enger zusammengedrängt worden in ein Flussbett, das bei Stansstad in den See einmündete, bis endlich im Jahre 1501 durch Vertrag oder Machtspruch der Landsgemeinde der "einheitliche Aaruns“ gegen Buochs beschlossen und durchgeführt worden ist. Allein lange vorher schon war ein Teil des Stanserbodens, zweifellos alles Land, das heute im Privatbesitz ausser der Allmend sich befindet, Stansstad und Oberdorf kultivierter Boden. In zwei Runsen floss die Aa in den See, der sog. grosse Aaruns hatte seinen Lauf von Will in der Richtung gegen den Bprgenberg ächerlihalden, der kleine Aaruns aber floss dem Ennerberg entlang nach Buochs. Darauf weist schon eine Urkunde aus dem Jahre 1261 hin, denn die Buochser beanspruchten einen Teil der Fischenzen im Aawasser. Am 23. Mai 1438 wurde unter dem Vorsitz von Landammann Ulrich Zumbühl von Wolfenschiessen und vier weitern Männern aus unbeteiligten Ürtenen ein Schiedsgericht nid dem Ennerberg auf dem Aagrund gehalten. Die Stanser, Oberdörfer und Stansstader klagten gegen die Dorfleute von Buochs, weil sie den kleinen Aaruns verwehret hätten. Und das Gericht, das von Gebieten einer Gemeinde der Landsleute von Nidwalden versammelt war, urteilte: Die von Buochs sollen den kleinen Aaruns, nach alten Briefen, ab dem Aagrund fliessen lassen, weil sie denselben aber zum Schaden der Kläger verwehret oder verschlagen, wieder öffnen und es solle ein Drittel bis die Hälfte des Wassers durch den kleinen Aaruns abfliessen. Zweitens auf Klage deren von Buochs, dass die von Stans über ihr Ziel und Marchzeichen hinaus gewuhret hätte, begab sich das Gericht auf den Augenschein der Marchen, die in der Urkunde, sei es dass sie bereits bestanden oder vom Gerichte neu bezeichnet wurden, ausführlich beschrieben sind. Die oberste Marche wies an die Brücke zu Wilen. Die Urkunde gibt uns ein völlig klares Bild vom grossen Aaruns, der in einer Breite von 50 Klaftern vom Ennerberg gegen den Bürgenberg zwischen Bergli und Ächerli sich ausdehnte. Weiter oben durfte das Aabett auf 28 Klafter verengert werden und ob dieser Stelle, die wir uns ungefähr bei der Liegenschaft Graben denken müssen, war es den Stansern anheim gegeben, nach Belieben zu wuhren.

Diese Regelung des Flusslaufes hatte aber nur kurzen Bestand. Den 6. März 1462 beauftragte die Landsgemeinde einen beeidigen Ausschuss von 7 Männern, zu richten wie es sie am besten bedünkt, wie dem Aawasser ein gemeinsamer Runs zu machen sei, sei es nach Stansstad, nach Bürgen oder nach Buochs. Und es soll der Ehre deren, die früher über die Sache gesprochen haben nicht nachteilig sein. Den durch den neuen Aaruns Belasteten wird Schadloshaltung zugesichert. Die Richter müssen schwören, ihren Auftrag auszuführen mit Rechten oder in Minne, vom See bis an die Engelberger March. Allein die Aufgabe war zu gross, um sie im ersten Anlauf zu vollenden. Noch neun Jahre floss die Aa geteilt in zwei Runsen dem See zu und wahrscheinlich ist es, dass die Natur in einer grossen Flussanschwellung, wobei die Aa von selbst den Lauf nach Buochs nahm, dem Plane der Landsgemeinde zu Hilfe kam. Denn am 10. April 1471 erklären die Buochser, dass sie auf Bitten der Stanser Genossen gewilligt seien, den Aaruns, wie er jetzt läuft, provisorisch auf 10 Jahre zu behalten, doch machten sie die Bedingung, dass die Stanser den Aaruns offen behalten müssen, und dass die zu Buochs zu keinen Arbeiten, als was sie Lust haben, verpflichtet seien. Jeder Schaden, den das Aawasser den Buochsern zufügte, sollte nach einem genau vereinbarten Schiedsverfahren geschätzt und vergütet werden und die Stanser mussten dafür sogar Bürgen stellen. Auch verpflichtete sich die Landsgemeinde, denen von Buochs eine Brücke über die Aa in ihrer Allmend zu bauen und zu unterhalten.

Die Urkunden über das Aawasser melden uns bis zum entscheidenden Jahre 1501 keine bedeutende Tat mehr. Ein Urteil von 1487, welches in spätern Akten erwähnt wird, ist verloren, Am 16. März 1501 urteilte ein beeidigtes, von der Landsgemeinde eingesetztes und von den Parteien anerkanntes Schiedsgericht über die Abtragung des Schadens, den die Fadengüter bei Buochs durch das Aawasser erlitten hatten. Die Stanser und ihre Mithaften bestanden auf dem einmuten Aaruns wie der vordere Brief weist. Das Schiedsgericht erkannte, dass es dabei sein Verbleiben haben solle und sprach den Buochsern eine Entschädigung von 520 Pfund zu in Bar. Damit solle der Aaruns nun und zu ewigen Zeiten bezahlt sein. Und sollen die von Stans, Oberdorf und Stansstad den Aaruns offen behalten bis an den Fade, item die am Bürgen von da weg bis an des Landammann Zelgers Brüel und die von Buochs bis an den See. Es ist die Abgrenzung der Wuhrpflicht, wie sie den Gemeinden mit wenigen Abweichungen heute noch obliegt. Der Streit um das Aabett aber war damit noch nicht begraben, Zahlreiche Gerichtsurteile und Beschlüsse der Landsgemeinde geben auch später noch von ihm Kunde, während die Chroniken von schweren Überschwemmungen des Landes berichten. Von der letzten Überflutung des Stanserbodens durch die Aa am 23. Aug. 1846 erzählt uns ein fleissiger geschichtsforscher, Karl Deschwanden im Heimeli, in der treuherzigen, weiläufigen Art der Chronisten alten Styls. Vergleichen wir seine Schilderung und die unter dem Volke erhalten gebliebenen Erinnerungen und Überlieferungen von dem Unglück mit der Katastrophe vom 15. Juni 1910, so erscheint uns das erste zum zweiten wie herber Herbstwind zum heulenden Hochsommer-Gewittersturm.

Hand an das Werk, das wertvollste Stück unserer Heimaterde vor der Gewalt des reissenden Wildwassers zu sichern. Neue Dämme wurden mit grossen Opfern aufgeführt, Arbeiten, die jetzt wieder die Anerkennung der Fachmänner gefunden haben. Man glaubte sich für immer sicher vor dem grimmen Feind des Tales. Und plötzlich brach er die Bande und trat in unmessbarer Wildheit noch über die Kraft hinaus, die er an den schwersten Tagen, welche uns die Geschichte von ihm meldet, an den Tag gelegt hatte.

Der 15. Juni 1910

Zwei Nächte und ein Tag lang hatte es ununterbrochen in Strömen und unter Föhneinfluss geregnet. Die meteorologischen Stationen haben in diesen zwei Tagen Regenmengen gemessen, so gross wie nie zuvor, z.B. auf dem Pilatus Kulm 138mm, in Stans in 24 Stunden 133mm. In den Bergen lag noch viel Schnee. Aelpler im Engelbergertal wollen gesehen habe, wie grosse Massen Lawinenschnee in den Gräben und Schluchten sich lösten, in die hochgehenden Wildbäche fielen und mit dem Wasser zu Tale stürzten. So ist das unerhört gewaltige Anschwellen des Aawassers erklärlich, dem auch die nach dem letzten Aaausbruch im Jahre 1846 errichteten starken Wuhren und Dämme nicht mehr Stand zu halten vermochten. Die Männer, die am 15. Juni morgens früh am Aawasser standen, sagen, dass sie vor der Riesengewalt des Flusses ein Schauer ergriffen und sie das Nahen eines grossen Unglücks empfunden haben. Und immer noch fiel starker Regen, der Fluss wuchs, jede neue Woge türmte sich höher als die abgeflossene. In Grafenort wurden alle Brücken weggerissen. Der hundertjährige hochgespannte Mettlenschwybogen verschwand in den Fluten und mit ihm die auf dem unterspühlten linken Ufer gelagerten Sagbäume. Der Luterseebach umspühlte das Bauernhaus in der Mettlen mit so heftigem Andrang, dass man eine Zeit lang den Zusammensturz des Hauses befürchten musste. Die Aa trat in Wolfenschiessen an verschiedenen Stellen über die Ufer. Die Heimwesen Schroten und Nächimatt wurden zum grossen Teil mit Sand und Geröll überschüttet. Im "Dörfli" traf die Liegenschaften "Ochsen" und "Plätz" das nämliche Schicksal. Alle Wildbäche längs der Aa waren in Aufruhr. Der Humligenbach überflutete den Eiacher und ein Stück des Kirchenmattli beim Dorfe Wolfenschiessen und wälzte seine Wogen talwärts durch die Allmeind von Büren ob dem Bach. Auch hier trat die Aa über das Ufer. Uchtern und Lochrüti wurden überschwemmt. Die Landstrasse stund dort metertief unter Wasser. Von Rickenbach her brauste der Buoholzbach hernieder, verliess sein gewohntes Bett und stürzte in der Richtung gegen den Dallenwiler Schwibogen auf Strasse und Bahndamm, die beide starken Schaden litten. Am linken Ufer, gerade gegenüber, grollte und donnerte der hochangeschwollene Steinibach, durchbrach die Dämme und überführte die Heimwesen Graben und Mühlimattli mit Geröll und Schutt. Noch mehr aber lagerten die beiden ungebärdigen Wildbäche im Bett der Aa ab. Beim "Giessen" und bei der Dallenwiler Allmend bordete der Fluss über alle Wuhren hinweg. Die Krotenbachschanze im Oberdorf vermochte das bereits zum Strome angewachsene Wasser nicht mehr in das Aabett zurückzudämmen, sie barst mit lautem Krachen.

Die Sturmglocken riefen die Rettungsmannschaft an die Arbeit. Es war halb 7 Uhr, als sie in Stans zum ersten Mal ertönten. Der Dorfplatz war vom Winkelrieddenkmal bis zum Brunnen hoch und breit mit Schutt und Geröll bedeckt, welches ein stark angeschwollener Bergbach von der "Laui" am Stanserhorn her neben dem Kreuzegg vorbei über den Bahnkörper der Stanserhornbahn, diesen unterspülend, durch die Knirigasse herabgeführt hatte. Und unheimlich, in seiner Bedeutung zuerst von niemand recht erfasst, hörte man den Ruf: "Das Aawasser kommt über die Matten gegen Stans!" Wir eilten hinaus. Die elekt. Kraft versagte. Schon bei der Rochuskapelle in Oberdorf kam uns das trübe breiige Wasser entgegen. Langsam und von einem fröstelnden Rauschen begleitet, bahnte es sich den Weg über das hohe Gras hinweg. Es war kein allmähliges Steigen des Wassers, urplötzlich wälzte sich eine 30 Ctm. hohe Woge daher. Das Vieh brüllte in den Ställen, wohin das Wasser drang, in ängstlicher Hast und Unbeholfenheit wehrten Frauen und Kinder - Die Männer waren schon an die Wuhren hinausgeeilt - mit Schaufeln und Brettern das Wasser vom lieben Heim ab. Umsonst. Die Hülfsmanschaften mussten, um weiter vorzudringen, einen Weg dem Berg entlang über den Aegerlihubel suchen. Oberhalb der Bürenbrücke zu unterst auf der Dallenwiler Allmeind stürzte die Aa mit reissender Gewalt über die Uferwuhre. Bald hallten die Axtstreiche, mit denen die Tannen gefällt wurden, vom Walde herüber und mit grösster Anstrengung schleppten die Hülfsmanschaften mit den wenigen in der Eile aufgetriebenen Pferden die Bäume herbei, um die Wuhre zu stützen und das Wasser abzuhalten. Aber der Fluss wurde immer ungebärdiger, die doppelte, die zehnfache Zahl an Menschenarmen hätten die Katastrophe nicht mehr zu verhüten vermocht. Noch stand eine Telegraphenstange mitten in der reissenden Flut, eine Weile an den Drähten schwankend, dann fiel sie. Und gleich hernach brach der Damm über hundert Meter breit. die Flut grollte und gurgelte, ein unheimlich gieriges Ungeheuer, das die Steinblöcke der Wuhre in die Matten hinaustrug. Mit ungeheurer Wucht stürzte das Wasser aus dem vom Geröll des Buoholz- und Steinibaches aufgefüllten Bett in das tiefer liegende Gelände. Ein zahmes schwaches Flüsslein schlängelte sich noch zwischen den Sandbänken des alten Aabettes nach Buochs hinunter. Die ausgetretene und durchgebrochene Aa nahm ihren Weg über Oberdorf nach Stans und Stansstad. In drei gewaltigen Strömen, gegen den Flecken Stans, das Waisenhaus und den äusseren Mettenweg durchschnitt die Flut das Gelände von Oberdorf, versarrte und verschlammte die schönsten Landgüter und bedrohte da und dort sogar das Leben der Bewohner. Mit dem Vieh wurde in höhere Lagen geflüchtet.

Nach weinigen Stunden boten die schönsten Landgüter ein Bild trauriger Verwüstung. Überall die schlammige Flut, aus der noch die Bäume emporragen, aber an ihren im Geröll und Sand eingesarrten Stämmen hangen mit den Wurzelstücken die in den Bergen losgerissenen Tannen. Schwere Sagbäume liegen auf den Wiesen oder sind von den wie Leuchttürme aufragenden Masten der Kraftleitung des Elektr. Werkes Engelberg-Luzern aufgehalten worden. Im Haus im "Bläterli" sind zwei Tannen durch die Kellerfenster eingedrungen, das Haus erzitterte, aber die Wände blieben fest. Manches der schmucken Bauernhäuser von Oberdorf bis Stansstad stand mitten in der reissenden Strömung und unheimlich rauschen und branden die Wasser und wehren jedem Zugang. Das Haus im Milchbrunnen steht mitten im reissenden Strom. Der Vater und die Söhne arbeiten im Stall, als das Wasser kam. Mütterlein allein im Hause, von jeder, auch der nächsten Hülfe abgeschlossen, und weiss nicht, wann die Wände des Hauses zusammenstürzen. Erst am folgenden Tage gelingt es den Männern, vom Stall zum Haus eine Brücke zu schlagen. Furchtbar hat das Uferdörfchen Stansstad gelitten. Von zwei Seiten war es bedrängt: vom hohen Wasserstand des Sees und von dem neuen Lauf der Aa; diese fiel das Dorf im Rücken an und bedrohte die Häuser. Dank der soliden Bauweise der alten Unterwaldner haben die Häuser, die tagelang mitten im Strome standen alle standgehalten. Schon am Vormittag stand Stansstad im Wasser. Die Flut umschloss enger und enger jedes Gebäude, der Seedruck drang in die Erdgeschosse ein. Die am Mittwoch auf dem Dorfplatz errichteten Notstege waren am Donnerstag morgen von dem höher steigenden Wasser gehoben und unbegehbar gemacht. Kähne vermittelten den Verkehr von Haus zu Haus. Das diensttuende Personal der Engelbergerbahn musste beständig im Wasser watten, die vom Dampfboot ankommenden Passagiere wurden von kleinen Schiffen in Empfang genommen. Im Depot wurden die für aussergewöhnliche Wälle bestimmten beiden Dampflokomotiven geheizt und so konnte während des Vormittags der Lokalverkehr auf der Strecke Stans-Stansstad aufrecht erhalten werden. Nachmittags musste auch dieser Streckenverkehr eingestellt werden, denn das Wasser stand 80 cm hoch über den Gleisen. Im untern, gegen Stansstad zu liegenden Teil des überschwemmten Gebietes hat das Wasser nur mehr feinen Schlamm abgelagert. Soweit es sich aber ausbreitete über die Fläche des Stanserbodens, ist das fast überall noch in den Matten stehende Heu zu Boden gedrückt und in den feinen lehmigen Schlamm eingebacken. Die ganz noch draussen stehende Ernte auf einer Fläche von vielen Quadratkilometern besten Kulturbodens ist entweder ganz vernichtet, oder doch als Futter unbrauchbar. Auf den der Bruchstelle zunächstliegenden Matten ist nicht nur der diesjährige Ertrag verloren, es werden vielmehr Jahre unermüdlicher fleissiger Arbeit nötig sein, dem vom Wasser und Schlamm ausgehungerten Boden wieder die frühere Fruchtbarkeit zu geben und die zirka 60000 Kubikmeter Geröll und Gestein abzuräumen. Gewaltige Anstrengungen wurden in Stans gemacht, den Flecken vor der Gewalt des Reissenden Wassers zu bewahren. Durch provisorische Wehren beim Knabenschulhaus, bei Schreinermeister Businger und bei Dr. Robert Durrer, über dessen Hausgarten hin sich erbarmungslos die schlammige Flut wälzte, wurden die Ströme vom Dorfe abgeleitet. Im letzten Moment, sonst hätte der eine der drei grossen Wasserläufe mitten durch das Dorf und den Hauptplatz sich den Weg gebahnt, alle Häuser überschwemmt, die Strassen durchfressen und mit dem Geröll die weiter talwärts liegenden Güter bedeckt. Das waren bange Augenblicke für die Dorfbevölkerung. Überall wo die Gefahr bestand, dass ein Wasserlauf sich dem Dorfe zuwenden könnte, wurde mit allem möglichen, gerade zur Hand liegenden Materialen verbarrikadiert, und so gelang es glücklicherweise, Dorf und Bahnhofplatz von der Überschwemmung frei zu halten. Schon gegen den Abend zeigte es sich aber, dass auch die Dörfler trotzdem ihren Teil bekommen sollten. Alle Kellerräumlichkeiten im Dorfe füllten sich mit rasch steigendem Grundwasser und mussten geräumt werden. Vielerorts war das aber nicht mehr möglich, denn die Männer schafften bei den Hülfarbeitern im Oberdorf, und nicht klein ist der Verlust der in den Kellern des Dorfes vom Grundwasser verdorbenen Vorräte aller Art.

Am Nachmittag des Unglückstages hörte endlich der schwere Regen auf. Die grauen Wolken streuten aber noch immer ihren feuchten Niederschlag wie ein feiner Sand auf die Erde nieder. Der Tag ging düster und traurig zur Neige. Die Hülfsmanschaften kehrten heim. Die Arbeit in der Nacht war lebensgefährlich. Die Wachen patrouillierten, die Wasser rauschten. Wird der morgige Tag Besserung bringen? Neben dieser Hoffnung erhielt ein Gedanke das Volk aufrecht und stark: Es war kein Menschenleben zu beklagen.

Die Hülfe

Am 15. Juni Nachmittag hielten die in Stans wohnenden Mitglieder der Regierung Rat - Polizeidirektor Wagner war in seinem Hause wie auf einer Insel abgeschlossen - gegen Wolfenschiessen waren die Verbindungen unterbrochen, mit Buochs und Beckenried konnte man sich nur telephonisch verständigen. Der Zugang nach Stans zu Wasser und zu Land war abgeschnitten. Der Rat beschloss das eidg. Militärdepartement zu ersuchen, eine Genieabteilung uns zur Hülfeleistung anherzusenden. Das Departement antwortete unverzüglich, dass es Baselstadt aufgefordert habe, eine Sapeurabteilung von 50 Mann mit Caders aufzubieten. Sie werden im Depot in Kriens Material fassen. Ein höherer Genieoffizier sei beauftragt worden, die Unglücksstelle zu besichtigen und der Leitung der Hülfsarbeiten Rat zu erteilen. Noch am selben Abend kam Oberstl. Zeerleder von Bern über Rotzloch und Ennetmoos her in Stans an und begab sich am Morgen des folgenden Tages an die Stalle des Dammbruches in Dallenwil, dort unter Anerkennung und in Anlehnung an die bereits am ersten Tag geleisteten Arbeit, seine Weisung erteilend.

Am 16. Juni morgens läuteten die Sturmglocken in allen Gemeinden. Über 700 Mann aus dem ganzen Kanton folgten dem klagenden Hilferuf zur Rettungsarbeit an der Aa. Auf beiden Ufern wurde gearbeitet. Während die einen an der Vertiefung und Ausweitung des ausgefüllten Flussbettes schafften, machten sich die andern unter der Leitung von Oberförster Deschwanden und Revierförster Lussi an die Schliessung des durchbrochenen Dammes. Von oben herab und von unten herauf, dem Flusse entgegen, wurde die Wuhre eingesetzt und so langsam die Ausbruchsstelle verengert. Tanne um Tanne verschwand in der tief ausgefressenen Wuhrlücke. Zehn- bis vierzehnspannige Pferdezüge schleiften die schweren unentästeten Bäume heran, die eine Kompagnie kräftiger Männer an Seilen dem tobenden Wasser entgegenführte. Eine schwere, eine gefährliche Arbeit, der alle ausdauernd und opfermütig oblagen.

Im Laufe des Nachmittages rückte das baselstädtische Geniedetachement unter dem Kommando des in der Flussverbauung erfahrenen Hauptmann Fäsch hie ein, mit Material und Werkgerät. Als am Abend die Dämmerung die Hülfsmannschaften vom Platze trieb, war die Arbeit, die Schliessung des Dammbruches nur wenig vorgeschritten, sofern man mit Meter und Zoll das Werk bemessen wollte, befriedigend aber war sei, ja gross, in Anbetracht der ungeheuren Schwierigkeiten.

Am 17. Juni dasselbe Bild. Wieder rufen die Sturmglocken. Die Hülfsmannschaften aus den äussern Gemeinden werden abgelöst durch Hülfe aus Obwalden und Kriens. Die Zahl der Arbeitenden ist noch gestiegen und das Werk hat einen tüchtigen Ruck vorwärts gemacht. Das emsige Treiben an der Durchbruchstelle, wo Hacken, Pickel, Schaufel, Seil und Drahtseil hüben und drüben in beständiger Tätigkeit waren, liess erkennen, dass ein ganzes Volk an ernster und opferfreudiger Arbeit war. Aber eine neue Gefahr heischte rasche Hülfe. Der vom Gigi her laufende Damm, der oberhalb der Wilerbrücke einmündete, leitete einen grossen Strom schlammigen Wassers ins Bett der Aa zurück, unterhölte beim Einlauf die Wuhre und frass sich einen tiefen gurgelnden Trichter aus. Noch rechtzeitig wurde die Gefahr eines zweiten Dammbruches erkannt und abgewehrt.

Am 18. Juni gelang es endlich den Damm zu schliessen und mit Steinen zu beschweren, welche Arbeit auch am Sonntag den 19. Juni mit 600 Mann und am Montag mit 200 Mann weiter befestigt wurde. Ein Wald von 247 Tannen liegt in der Wuhrlücke begraben, das hergeschwemmte Holz nicht mitgezählt. Eine grosse Arbeit hatte während all diesen Tagen auch die Verpflegungsabteilung zu leisten. Zwischen den beiden Arbeitskolonnen stand der Fluss. Die Strassen waren überschwemmt, zu jeder Mahlzeit mussten Speisen und Getränke auf weiten Umwegen der Mannschaft zugetragen werden. Trotzdem ist über die Verpflegung auf der ganzen Linie keine Klage laut geworden.

Nach dem Unglück

Breit und fest steht der Notdamm an der brandenden Aa. Auf dem fruchtbaren Gelände fliesst das Wasser langsam ab, noch sickert ein breiter Bach aus dem Geäst des Notdammes über das weisse Kalkgeröll dahin, wo bedürftiges Volk des hergeschwemmte Holz sammelt. Es wird noch Wochen dauern bis der Fluss selbst alle Poren verdichtet hat. Mit dem 20. Juni stellte das Militär seine Arbeiten ein, das war auch der letzte Tag, an dem freiwillige Hülfsarbeiter aufgeboten wurden. Was weiter nötig war zur provisorischen Festigkeit der beschädigten Wuhren und Dämme wurde auf Kosten des Kantons mit Taglohnarbeiten ausgeführt. Den Hülfsarbeitern aus Obwalden und Kriens und dem Geniedetachement von Baselstadt und seiner Leitung liess die Regierung in einem herzlichen Schreiben den Dank des Landes aussprechen.

Im Laufe dieser Woche erschien dann auch - von der Regierung darum ersucht - Herr Oberbauinspektor Rod an Ort und Stelle und machte seine Vorschläge für eine durchgreifende, planmässige Kanalisierung der Aa. Vom Hilfswerk sprach er mit unverholenem Lob.
Die Regierung hat den festen Willen, keine Opfer zu scheuen zur Sicherung des Stanserbodens, dieser schönsten Perle unseres Landes aus dem in manchen Jahren fortschreitender Entwicklung der bescheidene Wohlstand des Landes floss. Wir sind sicher, den Gefühlen des ganzen Volkes Ausdruck zu geben, wenn wir sagen, dass der Wille der Regierung auch der Wille des Volkes ist!

Nun scheit die Sonne wieder über dem Morast, dem Geröll und Trümmerfeld. Allmälig lässt sich der Schaden überblicken. Die Regierung hat eine Kommission mit der Schätzung beauftragt, aber bei der grossen Ausdehnung des beschädigten Gebietes wird erst nach Wochen Bestimmtes darüber gesagt werden können. Der erste Überschlag kommt auf eine halbe Million, ohne die Kosten für die Herstellung der zerstörten Wuhren, Brücken und Starassen. Der Schaden ist aber viel grösser, als man ihn gleich nach dem Abfliessen des Wassers oberflächlich schätzte. Auch da wo das flüchtige Auge einen Verlust nicht erkennt, das Heu noch aufrecht in den Wiesen steht, ist es voll Morast und statt dem Wohlgeruch des köstlichen Futters steigt Fäulnis und Modergeruch empor. Es dauern einem die Heuer. Wenn die Maschine durch die schlammerfüllten Matten fährt, wirbeln Wolken von stinkendem Staub auf, die Ross und Mann in graue Nebel hüllen.

Schwer ist die Heimsuchung, die einen grossen Teil unseres Volkes betroffen hat, aber es steht nicht mutlos und geknickt vor den verschütteten Hoffnungen, vor dem jähen Bruch einer glücklichen Entwicklung in der Landwirtschaft, vor so vieler vom Boden ausgelöschter schwerer Arbeit. Tüchtigkeit und Arbeitsfreude, gesunde Lebenshoffnung wird aufs neue den Boden bebauen. Mildtätige Liebe, der in der Not sich schon oft bewährte Opfersinn des Schweizervolkes wird die schwersten Wunden zu lindern wissen. Das starke Gottvertrauen und die mutvolle Arbeitstüchtigkeit unseres Volkes, machen es der mildtätigen Liebe der Eidgenossen wert.

                  Stans , Ende Juni 1910.

                                                                                                      Franz Odermatt

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